Transparenz [2025]

Kreative Texte

Schicksalsschreibe
Eine Arbeit von Anna Ida Shklyaver

Schicksalsschreibe

Drei Göttinnen, sie halten schwere Seide –
tropfend, triefend mit Geschichte.
Sechs Hände arbeiten am Garne –
Dreißig Finger fädeln, richten.

Sie flechten die Tapisserie,
der Blick verblasst, der Geist vergraut.
Sie tasten mit verknorrten Gliedern –
vom Fühlen, Flechten platzt die Haut.

Das Weben tun sie nach dem Vorbild
eines dicken, alten Bandes.
Liest man dort fremdes oder doch bekanntes?
Ein Buch mit durchsichtigen Seiten:

Die letzte ließe sich schon auf der ersten lesen –
Man lese von Geburt, von Leben, von Verwesen.

Die eine Greisin hält den Wälzer.
Die andere – die hält den frans’gen Faden.
Die Dritte, ja…die Dritte hält die Schere.

Blutrot ist jene – rot vor Rost?

Dies alles sah ich durch beschlag’ne Fensterscheiben.

Im Glase spiegelten sich Monde,
im Hitzetod wie überreife Feigen platzend;
die Funken, wie Sirenen nach mir greifend,
betörten mich wie zarte Frauenhände.
Die Luft war schwül und reizend.
Der Wind trug den Geruch von süßlichem Anis.

Das Buch der durchsichtigen Seiten,
gebunden in vergang’nen Tagen, fernen Stunden,
Es hält mich fest,
Es packt mich,
Will mich leiten,
Lässt meine Augen auf ihm ruhen.

Mein Blick verweilt – doch ich dissoziiere.

Löse mich auf in alten Zeiten,
ertrinke in den durchsichtigen Seiten.

Liegt nicht der Schmerz des Lebens in dem Ungewissen?
Verbietet man sich nicht die Liebe, Freude, Lust und das Genießen
aufgrund der Angst vor dem „Danach”?
Vor dem, was noch geschehen mag?

Ja, was danach…
Das fragt’ ich mich, als alles mich verließ.
Die Luft war schwül,
Der Wind trug den Geruch von süßlichem Anis.

Mein Leben – transparent wie diese Fensterscheiben…
Liegt nicht Erlösung in den durchsichtigen Seiten?
Die erste ließe sich noch auf der letzten lesen –
was nie geschah, was wird gescheh’n, was nie gewesen.

Und doch…
Und doch werd ich’s nie lesen.